Vor ein paar Wochen hatte mir mein sympathischer Nachbar eine abwechslungsreiche jedoch nicht überlaufene Bergtour empfohlen – die Erlspitz! Die Route von Norden bietet alles, was zu einer pfiffige Bergfahrt dazu gehört. Gestartet wird in Gießenbach, der erste Ort nach Scharnitz. Aufgepasst, auch wenn der Parkplatz den Anschein eines aufgelassenen Kieswerks hat, es handelt sich hier um einen offiziellen Parkplatz mit der für Österreich gängigen Tagesparkgebühr von 4 €.
Die Anfahrt zur Eppzirler Alm mit dem Radl bleibt mit lediglich zwei steilen Rampen überschaubar anstrengend. Auch wenn’s mir egal sein sollte, die beide E-Biker braucht’s trotzdem nicht. Fast schon tiefenentspannt ziehen sie an mir vorbei, während mich lediglich mein persönlicher Taktgeber in der linken oberen Brusthälfte antreibt. Sei’s drum, moralisch überlegen such ich mir oberhalb der Eppzirler Alm einen sicheren Abstellplatz für meinen grazilen Oldtimer. „Auf der Iss“ bezeichnet den breiten Bachbettauslauf der Iss. Den zu dieser Jahreszeit ausgetrocknete Bachlauf überquert man an seinem oberen Ende. Von nun an führt ein beschaulicher Wanderpfad durch den lichten zauberhaften Bergwald.
Nach der Weggabelung zur Reither Spitz gewinnt man über das steile Kar zur Eppzirler Scharte schnell an Höhe. Auf der Scharte gönn ich mir bei freiem Blick nach Süden und zum Solstein Haus eine Trink- und Brotzeitpause. Der abschließende Gipfelanstieg auf der Westgratroute führt 300 Hm über den pfiffig charmanten Zirler Klettersteig. Ein Kletterhelm empfiehlt sich in jedem Fall und zur Sicherheit leg ich meine Klettersteigausrüstung an.
Zwischen mächtigen Felstürmen, steilen Felsrinnen und Schuttreisen windet sich der Klettersteig am Westgrat ständig von der Nord- zur Südseite und wieder zurück zur Nordseite. Die Erlscharte erreicht man über ein schmales Felsscharterl.
Wer möcht kann nach zweidrittel des Steigs einen Abstecher über einen Felsturm nehmen (Klettersteigschwierigkeitsgrad D). Ich erspar mir den Umweg. Stattdessen wähl ich auf der Normalroute den mit einem Drahtseil gesicherten Felsquergang, anstatt die wenig spektakuläre Schuttreisn zu nehmen. Nun wird das Gelände mäßig steil und bald eröffnet sich der Blick zum kreuzgeschmückten Gipfel.
Auf’m Gipfel wird man mit reichlich grandioser Aussicht belohnt. Den Gipfelgenuss teilte ich mir mit drei jungen Bergsteiger*innen und einer Bergdohle. Die Verlockungen meiner Mortadella ließ die anfängliche Scheu der Bergdohle allmählich schwinden. Nach etlichen Rückziehern brachte sie dann endlich all ihren Mut auf und pickte mir das schmackhafte Gut von meinen Fingerspitzen weg.
Einen kurzen Abstecher auf dem Pfad Richtung Solstein Haus sollte man keinesfalls auslassen. Gleich die erste Scharte eröffnet den Blick auf eine bizarre Felsnadel – die Gipfelstürmernadel.
Der Weg führt mich zurück zur Westgratroute. Beim Abstieg über den Klettersteig kommen mir doch noch vereinzelt ein paar wenige Bergsteiger entgegen. Nach den ersten gesicherten Kletterpassagen überwinde ich mit gebührenden Respekt den kurzen aber steilen Schrofenhang. Auf der Eppzirler Scharte erlaub ich mir eine Trinkpause und pack Helm und Klettersteigset wieder zurück in meinen Rucksack. Kurz nach der Scharte erspar ich mir ca. 100 Hm Abstieg. Ein Kar bietet sich zur Abfahrt an. Nun schenkt mir der freie Blick in den Talkessel und zur Eppzirler Alm, das erhabene Gefühl eine wunderbare Bergtour erfolgreich gemeistert zu haben. Beschwingt von diesem Gefühl überwind ich fast spielerisch die 500 Hm zu meinem Oldtimer und freu mich auf eine entspannte Abfahrt nach Gießenbach.
Dr. Harald Klein